Als ich 2008 dieses Blog anfing, hatte ich noch keine Ahnung, dass ich einmal mein Haupt-Einkommen mit Schreiben und Lektorat verdienen würde. Ich hatte gerade meinen ersten „richtigen“ Job angefangen und das Thema „Lifehacking und Produktivität“ für mich entdeckt. (Wie sich viel später herausstellen sollte, war die Beschäftigung damit auch eine Coping-Strategie für etwas anderes, aber dazu unten mehr.)
Der letzte Post ist inzwischen über vier Jahre alt. Vier Jahre, in denen sehr viel geschehen ist: Ich habe geheiratet, bin von Freiburg in den Hochschwarzwald gezogen, habe neben dem Texten und Lektorieren beruflich einige Dinge ausprobiert (Musiktheorie-Unterricht zu geben beispielsweise) – und mir immer wieder gedacht: „Ich sollte mal wieder was für dieses Blog schreiben.“ Doch irgendwie schob ich das immer wieder von mir. Zwischenzeitlich war das Blog zu einem thematischen Sammelsurium gewordens, und manchmal dachte ich darüber nach, das Blog einfach zu löschen und ganz neu anzufangen.
Der eine Grund für mein Ungenügen an meinem Blog wurde mir in einem Gespräch mit einer Freundin sehr klar, als sie sinngemäß sagte: „Wenn man dein Blog anguckt, kommt man nicht auf die Idee, dass du Text und Lektorat machst.”
Das saß. Ich habe mich dann lange damit herumgeschlagen, dass ich nicht aufhören wollte, über Produktivität zu schreiben, und ich werde meine bestehenden Artikel zum Thema Produktivität da lassen, wo sie stehen. Für die Zukunft will ich mich hier allerdings wieder auf das Thema Schreiben konzentrieren.
Dieses Blog und ich
Es gibt noch einen anderen Grund, und der reicht tiefer.
Er hat vor allem mit mir zu tun, oder genauer: mit meiner Beziehung zu meinem ‚beruflichen Ich’. Mein Unbehagen daran hatte ich ja schon einmal erwähnt, und trotzdem konnte ich lange nichts daran ändern.
Ich habe schon eine Weile den Verdacht gehabt, dass ich mich gegen die Person sträube, die ich glaube, in einem beruflichen Kontext sein zu müssen. Nicht nur, weil ich glaubte, zu viel von mir ausblenden zu müssen, sondern – wie mir erst vor einigen Wochen bewusst wurde – weil diese Persönlichkeit eine ist, die alle anderen Teile von mir hasst und gegen sich selbst hart ist bis zur psychischen Selbstverletzung. Es ist eine Persönlichkeit, die das piefigste, spießigste, lebensunlustigte Wertesystem vollständig verinnerlicht hat. Sie ist im Grunde autoritär. Eine innere Stimme, die alles, was mir außerhalb des Kontextes „Arbeit“ wichtig ist, als nutzlos, frivol und irrelevant abtut, die mich bezichtigt, faul, unnütz, eine verwöhnte Diva zu sein und mir auf Kosten anderer ein schönes Leben zu machen. Aber – das macht es besonders vertrackt – diese Persönlichkeit kann auch vieles, was im sogenannten Erwachsenenleben nützlich ist: organisiert, pragmatisch, rational und sorgfältig sein zum Beispiel.
Wie also kann ich professionell sein, ohne diese Persönlichkeit sein zu müssen? Wie kann ich meinen Alltag ohne sie auf die Reihe bringen?
Vier Buchstaben, die mein Leben veränderten
Es geht noch eine Schicht tiefer. Denn dieses Gefühl, Erwartungen nicht entsprechen zu können und eigentlich alle möglichen unerwünschten bis inakzeptablen Eigenheiten zu haben – das kommt nicht von ungefähr.
Ende 2014 fing ich an, mich zu fragen: Was, wenn mein Leiden an der Umgebung Büro (und zwar allein aufgrund der Reize, die auf mich einstürmen) nicht mein Versagen, meine Schwäche ist? Was, wenn ich tatsächlich ganz handfest anders ticke? Wenn mein Gefühl, Disziplin sei eine endliche Ressource, stimmt – weil ich schon einen großen Teil davon für Alltägliches aufwende, das für ‚normale‘ Menschen keine Anstrengung erfordert (zum Beispiel pünktlich sein oder Dinge nach Plan tun)? Mir geschah, was ich später als typisch kennenlernte: Ich fand mich in den Beschreibungen anderer ADHS-Betroffener wieder. Ich fing an, nachzufragen. Fand mich noch mehr wieder. Las Bücher. Zweifelte immer noch, denn ich dachte: Ich erfülle ja nicht genug Kriterien. Ich war doch gut in der Schule. Ich bin ja nicht soooo desorganisiert. Zwei Faktoren überzeugten mich dann aber doch, dass vielleicht etwas dran sein könnte. Zum einen war da mein Mangel an Reizfiltern (ich kann Reize nicht ausblenden oder priorisieren), zum anderen hat meine Konzentration die zwei Extreme Hyperfokus und völlige Zerstreutheit und wenig dazwischen, und sie ist kaum willentlich steuerbar — erst recht nicht, wenn äußere Störfaktoren wie Reizüberflutung oder ständig wechselnde Anforderungen an meiner Konzentration zerren.
Edward Hallowells Buch „Zwanghaft zerstreut“ brachte mich dann doch dazu, mich meiner Hausärztin anzuvertrauen. Es dauerte noch ein paar Wochen, bis ich eine offizielle Diagnose bekam, und diese war zuerst für mich hauptsächlich wichtig, um ernstzunehmen, dass – und wie – ich anders funktioniere. ADHS, vorwiegend unaufmerksame Präsentation hieße das klinisch. Auf gut deutsch: Mein Gehirn ist an einigen Stellen anders verdrahtet und hat deshalb ein paar gar nicht lustige Bugs.
Besonders perfide ist, dass ich etwas typisch feminines sehr gut kann: Maskieren – „normal spielen“ – und Kompensieren. In der Schule war ich die, die nur halb aufpasst und trotzdem noch genug mitkriegt, um eine Zwei zu schreiben.
„Die muss sich nur mal zusammenreißen, dann kann sie es doch”, hieß es. Dass ich mich schon zusammenriss, das sah niemand, auch ich nicht (denn auch ich dachte: „Ich muss einfach nur disziplinierter sein“). Und gelegentlich war keine Kraft mehr da, mich zusammenzureißen. Das waren dann die versäumten ersten Stunden in der Schule, die Reisen, wo ich am Morgen vor der Abreise um drei Uhr nachts zu packen anfing und mit Ach und Krach den Zug schaffte, die Fünfen in Mathe, die Einbrüche von Chaos in einen Alltag, der sonst gerade so eben funktionierte und (zumindest gefühlt) ständig am Rand des Abgrunds tanzte.
Aber ich bin eben auch eine älteste Schwester und Tochter einer alleinerziehenden Mutter. Die Verantwortung, dass der Laden zuhause lief, lag oft auch auf meinen Schultern. Allzu viel Desorganisation konnte ich mir da nicht erlauben – und ich musste auch andere mit organisieren. Sprich: Ich lernte das Kompensieren richtig gut.
Dass mich das erschöpfte, schob ich in einem weiteren typisch weiblichen Move namens Internalisierung mir zu: ich war halt einfach schwach und faul. Es half auch nicht, dass im Hintergrund meine Großmutter mit ihren Kriegserinnerungen (und ja, wahrscheinlich zeitlebens tief verdrängten, in keiner Form bewältigten Traumata) präsent war, die es schon viel schlimmer gehabt hatte.
In einer Welt, in der es als normal gilt, pünktlich zu sein, Dinge nach Plan zu tun, unwesentliche Reize ausblenden zu können, sich willentlich auf eine Sache zu konzentrieren, sich abregen zu können, keine Emotionen von der Intensität einer plinianischen Vulkaneruption zu haben, die Hände still halten zu können, bin ich nicht normal, denn all diese Dinge kann ich nur unter Aufbietung von enormer Willenskraft oder gar nicht. Dass ich dafür andere Dinge sehr gut kann, macht den Schaden am Selbstwertgefühl nicht wett. Zu lange hat das, was in unserer Gesellschaft als Defizit gilt, den Blick darauf verstellt, oder ich erfahre für diese Stärken keine Wertschätzung.
Ständig gegen solche unsichtbaren Wände zu rennen (zusätzlich zum heterosexistischen Hintergrundrauschen), macht auf Dauer das Selbstwertgefühl kaputt.
Was tat ich also? Ich entwickelte eine Persönlichkeit, die ich nach außen projizierte, die all diese Defizite vehement leugnet. Ein Gegenbild zur unkonventionellen, phantasievollen, idealistischen Kreativen, das jede fiese Kritik, jeden Misserfolg, jede schlechte Note Lügen strafen will. „Schaut her, ich kann es doch tatsächlich, weil ich will und weil jetzt Schluss ist mit der Träumerei. Probleme? Nein, gibt es nicht, kein Problem weit und breit!“ (Man stelle sich eine Person vor, die etwas zu auffällig davon ablenken will, dass da jemand Sondermüll unter den Teppich gekehrt hat.)
Und da ist es: das aufgesetzte Supertopcheckerinnen-Ich, das ich glaubte sein zu müssen. Weil es im Grunde all die Kritik glaubt, die über mir ausgegossen wurde (verträumt! unrealistisch! unzuverlässig! macht nie was zu Ende!), ist es eine Inkarnation von Selbsthass.
Wie also weiter? Meine Desorganisation habe ich besser im Griff als je zuvor, auch dank einer gut eingespielten ADHS-Behandlung. („Therapie“ mag ich es nicht nennen: Keine Medizin der Welt wird je etwas daran ändern, wie mein Gehirn zusammengelötet ist – sie hilft ihm nur, die Anforderungen, die in dieser Welt an es gestellt werden, besser zu bewältigen.) Ich weiß jetzt einige Dinge über mich selbst, die mir helfen, mich zu organisieren und auch gesunde Grenzen zu setzen. All meine Beschäftigung mit Produktivität und Organisation war am Ende eine Copingstrategie; eine größtenteils konstruktive, aber eben keine ausreichende, solange ich neurotypische Erwartungen an mein neurodivergentes Selbst stellte.
Wie oben erwähnt, soll es in diesem Blog zukünftig wieder mehr ums Schreiben gehen, so, wie es in meinem Alltag als Texterin und Lektorin relevant wird. Es wird hier wahrscheinlich auch eher niederfrequent zugehen, denn meine eigentliche Arbeit ist ja, Text für andere zu schreiben.
Für meine zukünftigen Texte über Produktivität habe ich ein eigenständiges Zuhause geplant. Es ist noch im Bau, aber es wird schon kräftig gewerkelt. Näheres gibt es hier, sobald die Dinge spruchreif sind!